Die Situation in Afghanistan ist derzeit unübersichtlich. Die Ereignisse überschlagen sich stündlich. Traurige Tatsache ist, dass die Taliban in den vergangenen Tagen zahlreiche Provinzen überfallen und heute schliesslich auch Kabul eingenommen hat. Die Machtübernahme fand vielerorts ohne nennenswerte militärische Gegenwehr von Seiten der Regierungstruppen statt. Die afghanische Regierung scheint den Sieg der Taliban akzeptiert zu haben und verhandelt derzeit über eine gewaltfreie Machtübergabe. Die Menschen in der Provinzhauptstadt – auch viele Tausende, die aus umkämpften oder an die Taliban gefallene Ortschaften nach Kabul geflüchtet sind – haben grosse Angst vor den neuen (alten) Machthabern. Insbesondere diejenigen, die für die Regierung, westliche Staaten oder für internationale Hilfswerke gearbeitet haben, fürchten um ihr Leben. Auch unsere lokalen Partner haben grosse und begründete Angst. Wir haben die Schweizer Botschaft angefragt, ob die am stärksten bedrohten Mitarbeitenden unserer Partnerorganisationen ein humanitäres Visum erhalten. Unsere Anfrage wurde bislang nicht beantwortet. Unsere Hoffnung ist klein, dass unser Vorhaben erfolgreich sein wird.
Viele Menschen, die in den vergangenen Tagen und Wochen nach Kabul geflohen sind, leben in Pärken oder auf der Strasse. Die Not der Betroffenen ist gross. Es fehlt an allem und die Preise – auch für Lebensmittel – haben sich über Nacht vervielfacht. Wir haben einen lokalen Partner angewiesen, nach Möglichkeit Soforthilfe zu leisten. Wir verteilen Lebensmittel und Produkte des täglichen Bedarfs an jene Menschen, die alles zurückgelassen haben und in akuter Notlage sind. Wir haben für diese Spontanhilfe Mittel freigegeben; diese sind aber sehr begrenzt.
Auch die Distrikte Jaghori und Nawor in der Provinz Ghazni sind heute unter die Kontrolle der Taliban gefallen. Die lokalen Regierungen haben aufgrund der aussichtslosen Lage und zum Schutz der Zivilbevölkerung die Macht friedlich übergeben. Die Taliban sind vor Ort und haben die Vertreter unserer Partnerorganisation angewiesen, ihre Arbeit fortzusetzen und weiterhin Hilfe zu leisten. In Jaghori betreiben wir ein grosses Distrikt-Spital und zwei Waisenhäuser. Insbesondere die älteren Mädchen in den Waisenhäusern sind grossen Gefahren ausgesetzt. Es gibt Gerüchte, wonach die Taliban Mädchen ab 12 Jahren entführen, um sie ihren Kämpfern zu überlassen. Damit soll vor allem auch die lokale Bevölkerung gedemütigt werden. Ob diese Geschichten stimmen, können wir nicht überprüfen. Wir haben die Mädchen jedoch zu ihrem Schutz an einen anderen Ort gebracht.
Bamyan ist gestern ebenfalls an die Taliban gefallen. Die Situation vor Ort scheint aktuell friedlich zu sein. Die Machtübernahme fand auch hier ohne nennenswerte Gegenwehr statt. Und auch die Provinz Daykundi, in der wir verschiedene Hilfsprojekte betreiben, wird seit heute von den Taliban kontrolliert. Glücklicherweise sind uns derzeit keine Berichte bekannt, wonach es zu Übergriffen gekommen ist. Es sieht danach aus, dass die Taliban angesichts der grossen Aufmerksamkeit durch die Weltöffentlichkeit nur sehr zurückhaltend Gewalt anwenden. Wir befürchten jedoch, dass sich die Situation schnell ändert, wenn die letzten Staatsangehörigen aus dem Westen abgezogen und das Interesse der Medien an der Situation in Afghanistan abnimmt.
In den paschtunischen Projektgebieten ist die Sicherheitslage verhältnismässig gut. Die Taliban haben auch hier die vollständige Kontrolle übernommen. Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und den Taliban sind zum Erliegen gekommen. Aus diesem Grund ist es für unsere Partner sicherer geworden, sich vor Ort zu bewegen, beispielsweise, um dringend benötigte Medikamente in unsere Gesundheitseinrichtungen zu transportieren. Auch die von uns gebauten Schulen dürfen – zumindest vorläufig – ihren Betrieb fortsetzen.
Wie sich die Situation in den kommenden Tagen und Wochen entwickeln wird, kann aktuell nicht eingeschätzt werden. Wir sind sehr froh, dass wir unsere Hilfsprojekte vorerst alle weiterbetreiben können. Wir hoffen, dass dies auch unter den Taliban möglich sein wird.
Wichtig ist nun, den Menschen in dieser schwierigen Zeit beizustehen und Nothilfe zu leisten. Unsere Gesundheitseinrichtungen sind Orte der Hoffnung. Die Taliban mögen zwar Schulen für Mädchen schliessen können, aber sie können nicht rückgängig machen, was in den letzten 20 Jahren geschehen ist. Nicht zuletzt auch dank unserem Engagement ist eine selbstbewusste und verhältnismässig gut gebildete Generation von jungen Menschen herangewachsen. In dieser Generation liegt alle unsere Hoffnung. Wir vertrauen darauf, dass diese Menschen einen Weg finden werden, ihre Zukunftsträume zu verwirklichen.